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Lisa Reiter

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Meine Waage und ich. Wir haben eine lange, gemeinsame Geschichte hinter uns. Zwischen Liebe und Hass. Freundschaft und Feindschaft. Die Liste ist lang, was ich mit meiner Waage im Laufe meiner Anorexie alles mitgemacht habe. Ein Leben ohne sie? Undenkbar. Lange Zeit war sie meine beste Freundin. Meine beste Objektfreundin. Irgendwann war das Band zwischen ihr und mir so stark, sodass ich mein ganzes Leben von ihr abhängig machte. Oder besser gesagt von ihren Zahlen.

 

Welche Rolle spielt die Waage in der Anorexie?

Zwischen Verzweiflung, Disziplin und Selbstbestätigung

Die Waage gehört zu Anorektikern, wie das Amen zum Gebet. Sie ist eine Art Wegweiserin, gar Begleiterin, denn sie begleitet uns unterstützend auf unseren Weg ins Verderben. Ich finde, ich sollte das Thema Waage in meiner Anorexie Kategorie nicht unbedacht lassen, denn sie spielt eine wesentliche Rolle im Alltag von Essstörungspatienten. Die Vorzeigeanorektiker wiegen sich mehrmals am Tag. Im Schnitt vor und nach jeder Minimahlzeit, gelegentlich auch dazwischen. Denn sie suggeriert vor allem eines: Kontrolle. Waagen lügen nicht. Sie präsentieren uns in der Regel das richtige Ergebnis und zeigen schonungslos, wann wir zugenommen haben. Doch das ständige Wiegen ist mit viel Schmerz und Leidensdruck verbunden.

Ich gehöre nicht zu den Vorzeigeanorektikern. Wenn ich es tue, wäre ich jetzt immer noch lebensbedrohlich untergewichtig, doch das lassen wir lieber außer Acht. Ich war nie diejenige, die sich mehrmals am Tag gewogen hat, aber einmal am Tag war Pflicht und immer drin. Bevorzugt morgens. Zu dem Zeitpunkt, an dem ich mir am sichersten war, dass ich vollkommen „leer“ bin. Auch dafür gab es, wie sollte es anders sein, perfide Regeln, die ich einhalten musste:

 

Erste Regel: Vor dem Wiegen darf ich nichts trinken oder essen, denn ansonsten bin ich schwerer und hab kein echtes Ergebnis.

Zweite Regel: Vor dem Wiegen darf ich nicht Zähneputzen. (Weil Zahnpasta hat ja auch Kalorien)

Dritte Regel: Vor dem Wiegen darf ich nicht duschen und schon gar keine nassen Haare haben. (Weil das Wasser mich schwerer machen und dementsprechend das Ergebnis verfälschen könnte)

Vierte Regel: Ich darf nichts am Körper tragen. (Selbst mein Bauchnabelpiercing habe ich mir vor jedem Schritt auf die Waage entfernt)

Fünfte Regel: Nicht schminken vor dem Wiegen und vollständig abgeschminkt sein, denn das Zeug könnte mich schwerer machen.

 

Mit Ausnahme von Regel Nummer 1 war der Rest ein absoluter Blödsinn. Ich habe es selbst getestet. Normale Schlafkleidung macht dich nicht einmal um 100 g schwerer, das Piercing wiegt fast nichts, genauso wie Make-up, was im Grunde genommen logisch sein sollte. Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, was das für ein Kontrollzwang war. Somit ist Anorexie im weiteren Sinne nicht nur eine Sucht, sondern auch eine kleine Zwangsstörung, die je nach Individuum sehr schwach bis hin zu sehr stark ausgeprägt sein kann. Wieder ein deutliches Zeichen, dass es sich hierbei um eine psychische Erkrankung handelt, denn Zwangsstörungen werden im ICD-10 in die Kategorie F4 eingereiht: Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen. 

Anm.: Der ICD (International Classification of Diseases) ist übrigens ein Diagnostikschemata, welches für alle Erkrankungen steht. Kategorie F beschäftigt sich ausschließlich mit psychischen Erkrankung. Anorexie wird unter F50.0 gereiht. Daneben gibt es auch noch den DSM (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders), der rein für psychische Störungen gilt.

Streng genommen wird eine Anorexie jedoch nicht in die Kategorie F4 eingeteilt, weil es sich hierbei um keine Zwangsstörung handelt. Allerdings zeigt man durch das ständige Wiegen eine zwanghafte Symptomatik, die eben darauf hindeutet, dass man einen bestimmten Zwang hat. Zwänge zeigen sich beispielsweise auch durch das ständige Kontrollieren von Kalorienangaben etc.

 

Die Waage als Auslöser für Zwangsneurosen

Das Wiegen sollte man nicht auf die leichte Schulter nehmen. In einer Essstörung wird es innerhalb kürzester Zeit zwanghaft. Natürlich spricht nichts gegen das Wiegen an sich, aber zu oft und ständig auf die Waage zu steigen, ist ungesund. Nicht körperlich, versteht sich, dafür psychisch umso mehr. Man könnte das Wiegen sogar als einen Verstärker sehen, der Betroffene nur noch mehr in die Misere reitet. Bei mir war es zumindest so. 100 g mehr als am Vortag reichten aus, um mich zum Hungern zu zwingen. 100 g weniger verschafften gleichzeitig ein Glücksgefühl, aber auch eine seelische Unzufriedenheit mit mir selbst. Es geht schließlich immer besser. Sogar ein Kilo weniger nach einem Tag macht nur ganz, ganz kurz glücklich. Denn hier fragt man sich erst recht, wie man es noch besser machen kann.

Die Waage war von Anfang an mein Essential. Auch schon dann, als ich erst mit meiner Diät angefangen habe. Gewogen habe ich mich täglich, weil ich schnell Ergebnisse sehen wollte. Ich wollte wissen, ob meine Diät anschlägt. Am Anfang hat es mich wahnsinnig glücklich gemacht, als die Zahl rapide nach unten gegangen ist, doch irgendwann war dieses ganze Gefühl nicht mehr befriedigend.

 

Als es nicht mehr ohne die Waage ging

Ich kann mich noch ganz genau erinnern, als meine Beziehung zur Waage am Tiefpunkt angelangt war. Zu der Zeit hatte ich gerade meine Matura bestanden und anstatt mich auf meine Maturareise zu freuen, zermarterte ich mir den Kopf, wie ich eine Woche ohne Waage überleben könnte. Es war für mich undenkbar, ohne dieses Kontrollorgan in den Urlaub zu fliegen, also packte ich sie ein. Mit schweren Folgen. Sie ging während des Fluges kaputt. Ich hätte Ausrasten können und spürte im ersten Moment nur eines: Pure Verzweiflung. Irgendwie funktionierte sie trotzdem noch und sie zeigte auch immer noch das richtige Ergebnis an. Im Nachhinein betrachtet macht es mich wahnsinnig traurig, dass ich diese einzigartige Woche in meinem Leben mit solchen Gedanken verschwendet habe. Es ärgert mich, dass ich sie überhaupt mitgenommen habe, denn genießen kann man einen Urlaub damit nicht wirklich.

Was ich damit sagen möchte: Man darf sein Leben nicht von einer einzigen Zahl abhängig machen. Man ist mehr, als nur eine Zahl. Hier habe ich einen ausführlichen Beitrag darüber geschrieben. Sich zu wiegen, ist nicht verkehrt und man sollte es auch manchmal tun, um einfach ein Auge auf sein Gewicht zu haben. Aber das Gewicht sollte nicht die Hauptrolle in unserem Leben spielen. Die Waage schon gar nicht.

Ich weiß ganz genau, warum ich mich jetzt nicht wiege. In mir drinnen schlummert immer noch ein Teil Anorexie. Man sieht es außen nicht, aber so ganz davon loskommen werde ich nie. Wenn ich diese Zahl sehe, die mir die Waage gnadenlos auf dem Silbertablett serviert, werden Kognitionen frei, die mich in Richtung Hunger oder Anorexiegedanken treiben würden. Zumindest jetzt ist es so, denn auch wenn es mit meiner Ernährungsumstellung super klappt, ich weiß, dass ich momentan damit nicht klarkommen werde. Darum habe ich Angst, was dieser Anblick einer zweistelligen Zahl mit mir und meinen Verhaltensweisen machen könnte. Meine Devise lautet nun: Besser bleiben lassen und zwar so lange, bis ich mit meinem Spiegelbild zufrieden bin. Denn dann ist die Zahl wirklich nur noch eine Zahl und nicht der Lebensinhalt.

 

Bild via Kaboompics 

 

Comments

  • 9. September 2016

    Ich finde das wieder so authentisch, lebensbejahend und mutig geschrieben! Und mit so vielen hilfreichen und spannenden (auch wenn es in diesem Kontext komisch klingen muss, ich finde es aber wirklich interessant mehr darüber zu erfahren) Informationen. Wundervoll, liebe Lisa!

  • 10. September 2016

    Ich mag Wagen nicht… das ist auch der Grund weshalb ich seit Jahren keine Wage besitze und ich mich seit Jahren auch nicht wiege. Wozu? Wenn ein Kleidungsstück enger wird, dann ist das ein Signal, dass ich zugelegt habe und dann wird es Zeit etwas weniger zu essen. Wagen können einen die Laune verderben.
    In der Küche besitze ich auch keine Wage, ich mache das nach Augenmass und es funktioniert 🙂
    Fühl dich gedrückt
    Liebst Elisabeth

    http://www.missespopisses.com

  • 10. September 2016

    Während mein damaliger Freund der festen Überzeugung war, ich sei magersüchtig, hatte ich wirklich jedes Mal Angst davor, auf die Waage zu steigen. Ich wollte nicht sehen, dass ich weiter abgenommen habe, da ich immer wusste, dass mein Gewicht ungesund ist und nicht weiter sinken darf. Eine drastische Zunahme wäre auch schlimm gewesen – dann wäre die Angst aufgekommen, dass ich wieder so dick wie früher werde.
    Von daher habe ich mich nie öfter als 1x pro Woche gewogen – aber genau wie du immer morgens, damit es vergleichbar bleibt. Ich habe da auch vorher nicht gegessen oder getrunken, darauf geachtet und abends nicht übermäßig lange wach gewesen zu sein. Allerdings hatte ich immer Unterwäsche an. Da ich die ja immer trug, machte sie keinen Unterschied und sorgte nur dafür, dass mein Ergebnis ein paar Gramm schwerer ist – was ich gut fand. Denn ein bisschen mehr angezeigt bekommen als ich tatsächlich wiege, schadete nie – falls mal jemand fragt, wie viel Gewicht überhaupt noch von mir übrig ist klingen 100g mehr immer besser 😉

    Inzwischen wiege ich mich nur noch ca. ein Mal im Monat, um sicher zu gehen, dass ich nicht drastisch an Gewicht verliere. Ansonsten sage ich mir immer, dass ich mich wohl fühlen will (und das tue ich nun mal, wenn ich viel Sport mache und viel Gemüse, Obst und Quark mit Müsli essen kann).

    Diesen Post hier finde ich echt gut, denn es ist schon traurig, wie sehr wir von so einem Gerät abhängig sein können. Bei mir war es immer eher die Küchenwaage, da ich ja Kalorien zählen wollte. Ich habe im Juni sogar noch mit dem Gedanken gespielt, sie mit auf den Kurztripp nach Stuttgart zu nehmen. Ein Glück, dass ich mir wenige Stunden vor der Abfahrt dachte: Nein! Urlaub ist Urlaub und da will ich die Zeit nicht mit sowas verschwenden.
    Anschließend wusste ich dann nämlich, wie schön es ist, zu essen, ohne alles eingeben zu müssen und habe wenig später komplett aufgehört zu zählen.

    Liebe Grüße

  • 12. September 2016

    Ich liebe ja deine Texte zu diesem Thema, aber oft finde ich mich darin wieder und weiß gar nicht ob ich den Post dann lesen und auch kommentieren will. Jedenfalls erinnert mich das Thema „Waage“ immer daran, dass meine Omi, bei der ich wohne, damals die Waage wirklich weggeschmissen hat. Gott sei dank war ich jeden Tag bei meinem Freund, der eine funktionierende Waage hatte. Ich kann mich ganz genau an den Moment erinnern, als ich im Herbst, mit Hose, Pulli Socken etc. mich gewogen habe und mich über die Zahl SO gefreut habe dass ich wirklich nicht aufgehört habe zu lächeln. Im nächsten Moment dachte ich mir „Na wenn das so gut läuft, dann will ich das nächste mal einen kg weniger sehen“. Damals wog ich 8 kg weniger als jetzt. Mein tiefster Punkt lag bei einer erschreckend kleiner Zahl. Mein Freund hat mich irgendwann nicht mehr auf die Waage gelassen. Ich bin froh, dass du heute so einen Blick auf die Vergangenheit wirfst. Dass immer noch ein Teil der Anorexie in die schlummert, verstehe ich. Ob das jemals weggehen wird? Weiß ich nicht. Ich erwische mich auch extrem oft dabei, mein Frühstück über Stunden hinauszuzögern damit ich weniger am Tag esse. Weißt du, solche Posts wie der hier zeigen mir, dass es Menschen gibt denen es so ging wie mir, die aus der Krankheit hinaus wollen, und ganz fest an sich selbst glauben. Wir sind alle nicht alleine. Normalerweise rede und schreibe ich NIE über das Thema, aber bei deinen Posts kann ich mich auch irgendwie auslassen, weißt du, was ich meine?
    Du kannst so stolz auf dich sein. Und ich bin mega froh, dass du WEISST, das die Regeln damals, außer die erste, einfach blödsinn waren. 🙂

    Tamara

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