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Lisa Reiter

  /  Personal   /  Anorexia Recovery   /  Hilft das Kalorienzählen in der Recovery?

Es könnte nicht widersprüchlicher sein. Ich mache eine Recovery, aber zähle Kalorien. Die Hintergründe meiner Entscheidung könnt ihr -HIER- noch einmal nachlesen. Dass eine Essstörungs-Recovery und Kalorienzählen auf den ersten Blick nicht wirklich zusammenpassen, ist klar. Ich möchte auch niemanden ans Herz legen, das Kalorienzählen als dauerhafte Lösung zu betrachten. Selbst ich will nicht mein Leben lang davon abhängig sein. Nur war das Kalorienzählen sozusagen die Lösung und mein letzter Ausweg, wieder mit dem Essen anzufangen. Der erste Schritt in die richtige Richtung.

Gut zwei Monate tracke ich nun meine Kalorien. Tatsächlich hat es mir geholfen, neue Nahrungsquellen für mich zu entdecken. Zur Erinnerung: Ich habe mich wochenlang nur von Milch und Sojamilch ernährt, dadurch leider auch zugenommen, weil ich über meinen Grundumsatz kam, aber dennoch gehungert. Obwohl ich dadurch zugenommen habe und wusste, dass ich mit fester Nahrung dem entgegensteuern könnte, hatte ich urplötzlich Probleme damit, diese auch tatsächlich zu essen.

Seitdem ich tracke, gelingt es mir, meine drei Mahlzeiten am Tag zu mir zu nehmen. In fester Form. Milch trinke ich kaum noch. Mein Kaffeekonsum hat rasant abgenommen. Eine deutliche Verbesserung. Trotzdem bin ich gerade drauf und dran, meine Sichtweisen und Perspektiven zum Thema Kalorienzählen zu verändern. Mit der Zeit gewinnt man mehrere Erkenntnisse. Eine dauerhafte Lösung ist das Tracken nicht. Schon gar nicht, wenn es um eine Essstörungs-Recovery geht.

 

 

Mut fassen und das Problem am Schopf packen

Warum das Kalorienzählen am Beginn einer Recovery sinnvoll ist

Menschen mit einer Essstörung sind Kontrollfreaks. Kontrolle ist etwas, das wir nur sehr schwer aus der Hand geben können. Darum sind besonders Essattacken der absolute Tiefpunkt des Kontrollverlustes, egal ob man nun an Anorexia Subtype Binge-Purge, an Bulimie oder an Binge Eating Disorder leidet. Meine größte Angst vor dem Essen war, dass ich sofort in ein Binge-Purge-Muster zurückfalle, sobald ich wieder feste Nahrung zu mir nehme. Zum Glück ist das vom ersten Tag an nie passiert. Die Planung half mir nicht nur dabei, zu essen, sondern auch nichts wegzulassen. Zumindest am Anfang. Dazu aber gleich mehr.

Von heute auf morgen die Kontrolle aufzugeben, ist schwer. Alleine der Gedanke daran ist ein Hindernis. Ich kann mich nicht von heute auf morgen ändern. Insbesondere weil ich nun seit neun Jahren an der Essstörung leide. Die Motivation, etwas zu ändern war und ist groß. Die Angst, die Kontrolle zu verlieren, war und ist jedoch größer. Gedanken an den Kontrollverlust sind für Essstörungspatienten wahnsinnig schwer auszuhalten, weswegen ich mich am Anfang einer Self-Recovery durchaus für das Kalorienzählen ausspreche.

Ein weiterer Grund: Portionsgrößen einschätzen. Nach wie vor kann ich nicht genau sagen, was eine normale Portion und was zu viel oder zu wenig ist. Es wird jedoch besser, doch am Anfang wäre ich in der Hinsicht besonders hilflos gewesen. Das Tracken alleine reicht dazu jedoch nicht. Nebenbei muss man sich auch schlau machen, was der Körper wirklich braucht.

 

 

Doch Vorsicht: Tracken kann auch ganz schön schief gehen

Verlockende Versuchungen, Bewegungsdrang und starre Fixierung auf Nährwerte

So gut das Tracken für mich zu Beginn funktioniert hat, es gab auch Momente, die suboptimal liefen. Das Tracken hat mich unter anderem ebenso dazu verführt, meine Portionen zu schmälern. Wo kann ich noch mehr einsparen? Das genaue Auflisten der Nährwerte hat mich teilweise sogar in den Wahnsinn getrieben. Ich habe bereits einmal erzählt, dass Kohlehydrate besonders problematisch sind. Sogar problematischer als Fette (die ich nur in Form von reinem Öl und Butter, also „spürbaren“ Fett problematisch finde, aber weniger in Form von Nüssen, Fisch oder Avocados). Da ich Gemüse ebenfalls tracke, dessen Hauptnährstoff meistens Kohlehydrate sind, bekam ich leichte Panikgefühle, als mein Kohlehydratebalken in meiner App immer weiter nach oben schnellte. Das wiederum führte oft dazu, dass ich die Carbs, die wirklich sättigen (wie Getreideprodukte und Kartoffeln etc.) gerne auf ein Mindestmaß reduziert habe.

So wurden die Anteile von sättigenden Lebensmittel wie Couscous, Bulgur oder Kartoffeln immer geringer, der Gemüseanteil jedoch höher. Natürlich ist es gut, wenn man locker auf seine „5 A Day“ kommt und natürlich ist es auch gut, wenn man viel Gemüse isst. Doch es ist nicht gut, hauptsächlich von Gemüse zu leben. In letzter Zeit habe ich auch gemerkt, dass mein Energylevel nach unten gegangen ist. An Tagen, an welchen ich Sport gemacht habe, kam zusätzlich hinzu, dass ich einen richtigen Bewegungsdrang entwickelte. Den Tag darauf konnte man schmeißen, weil ich kaum Energie hatte.

 

 

So soll es nun weitergehen

Welche Steps als nächstes anstehen

So ganz losreißen kann ich mich von dem Kalorienzählen noch nicht. Zwar musste ich mich bei meiner Reise nach Bulgarien damit abfinden, die Kontrolle aus der Hand zu geben und ich habe auch gesehen, dass es klappt, doch zu Hause bin ich an diesem Punkt noch nicht angekommen. Ich habe jedoch für mich beschlossen, dass ich das Tracken von Gemüse langsam aber sicher aufgeben muss. Damit treibe ich meine Kalorien nur unnötig in die Höhe und vermeide Kohlehydrate noch mehr. Hey, es macht keinen Unterschied, ob ich meine Zucchini auf 100 Gramm abwiege oder gleich eine ganze esse. Ich habe auch noch nie erlebt, dass ein Mensch von Gemüse zugenommen hat. Darum möchte ich im nächsten Schritt das Tracken von Gemüse aufgeben.

Außerdem ist es wichtig, mein Energielevel wieder nach oben zu bringen. Die letzten Tage waren geprägt von Müdigkeit und Schwäche. Weil mir Sport wieder so viel Spaß macht, genauso wie das aktive Teilnehmen am Leben, ist es notwendig, verstärkt darauf zu achten. Es ist eben doch schöner, eine energiegeladene junge Frau zu sein, anstatt ein müdes Murmeltier, das nicht aus dem Bett kommt und blass ist.

Darüber hinaus möchte ich mich endlich einer ärztlichen Untersuchung unterziehen. Mich gründlich durchchecken lassen, um alle meine Mängel herauszufinden, damit ich sie gezielt bekämpfen kann. Ich selbst rechne insbesondere mit einem Eisenmangel, darum achte ich schon jetzt darauf, mehr Eisen zu mir zu nehmen.

 

 

Wie es mir ansonsten mit dem Essen geht

Was läuft gut? Was eher schlecht? Und welche neuen Erkenntnisse kamen hinzu?

Frühstück ist die Mahlzeit, die mir am leichtesten fällt. Das Abendessen jene, bei denen ich die meisten Struggles habe. Besonders je später es wird. Das heißt nicht, dass ich nach 14 Uhr nichts mehr esse, was ich in meiner Magersucht getan habe, aber ich esse gerne zu Abend, wenn es noch hell ist. Auch „On the Go“ zu essen ist für mich ein absoluter Horror. Zumindest jetzt noch, da ich mich unwohl und beobachtet fühle. Auf der anderen Seite finde ich es jedoch gut, dass ich mir für das Essen Zeit nehmen will und mich hinsetze, anstatt mir etwas im Gehen runterzustopfen.

Ich versuche wirklich, keine Mahlzeiten auszulassen. Halte ich das Hungergefühl zu lange aufrecht, verfalle ich wieder in eine Art Suchtrausch. Genau das ist auch das Problem an Essstörungen. Man ist täglich mit seiner „Droge“ konfrontiert. Bei mir ist es der Hunger. Dauert er zu lange an, beginne ich das Gefühl langsam zu genießen und es versetzt mich tatsächlich in ein High-Gefühl. Mitunter ein Grund, warum Essstörungen auch so schwer heilbar sind. Und gerade da liegt die Gefahr: Wenn ich Mahlzeiten zu lange weglasse, neige ich dazu, sie ganz wegzulassen und das Muster zu wiederholen.

Zum Glück kann ich auf die Unterstützung meiner Freunde und Familie bauen, die genau wissen, wie wichtig es für mich ist, dass ich all meine Mahlzeiten einhalte. Es ist wirklich rührend, wie sehr sie darauf achten, insbesondere auf diese Pausen. Sind wir den ganzen Tag unterwegs, setzen sie sich auch wirklich mit mir hin und schauen darauf, dass ich was zu Essen bekomme. Ich kann ihnen immer erzählen, wann ich mich besonders schwach fühle und von mir aus essen möchte, ohne das Gefühl zu haben, sie würden mich als Fressmonster betrachten, was ja nun wirklich nicht der Fall ist.

Ohne diesen Support wäre die ganze Sache wesentlich komplexer und schwieriger, darum bin ich froh, dass ich in der Self-Recovery Menschen um mich habe, denen es wirklich darum geht, dass es mir besser geht. Das sehe ich nicht als selbstverständlich an.

 

 

Wie lange ich noch Kalorien zählen möchte

Mein Ziel ist es, dass ich das intuitive Essen wieder erlerne, darum weiß ich, dass es auch einen Zeitpunkt geben wird und muss, an dem ich das Kalorienzählen aufgeben sollte. Dass ich Ambitionen dazu habe, auf die Küchenwaage zu verzichten, habe ich bereits gemerkt. Und ich weiß auch, dass ich Ambitionen dazu habe, das Kalorienzählen ganz zu lassen. Schon oft habe ich positive Erfahrungen gemacht, dass ich nicht sofort zunehme, wenn ich mal keine Kalorien zähle oder „so esse, wie andere auch“. Positive Lernerfahrungen nennen wir so etwas in der Psychologie. Ich darf diese nur nicht aus den Augen lassen oder vergessen.

Der Sport läuft übrigens prima. Ich habe in die regelmäßige Bewegung zurückgefunden. Nur weiß ich, dass ich dazu auch ein gutes Energielevel brauche. Je mehr Energie mein Körper hat, umso länger halte ich durch und umso mehr kann ich auch machen. Ich bin echt froh, dass ich inzwischen ein aktiveres Leben führe. Das hilft mir einerseits zu essen. Andererseits bin ich zuversichtlich, dass es mir auch dabei helfen wird, das Kalorienzählen wieder aufzugeben.

 

Comments

  • 5. April 2018

    Ich finde es einfach so mutig und toll, dass du deine Erfahrungen so offen mit uns teilst.
    Im Urlaub habe ich mitbekommen, wie schwer dir manche Dinge noch fallen, aber wie tapfer du es dennoch versuchst. Und das hat all meinen Respekt verdient. 🙂
    Mach weiter so, du schaffst das, liebe Lisa! 🙂

    Wishes, Kat

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Est. 2012

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