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Lisa Reiter

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6 Vorurteile gegenüber Magersucht

Der Mensch hat Vorurteile. Wir dürfen nicht mit den Finger auf andere zeigen, sondern müssen uns diesbezüglich alle selbst an die Nase fassen. Jeder Mensch hat Vorurteile. Du, genauso wie ich. Das liegt einfach in unserer Natur. Auch wenn wir versuchen, sie zu unterdrücken, aber in uns manifestiert sich doch immer ein bestimmtes Bild gegenüber bestimmten Dingen. Seien es ethische Gruppen, seien es diverse Firmen oder wie in meinem Fall Magersucht. Mit sechs davon möchte ich -zumindest aus meiner Sicht- aufräumen.

 

Photo by Patryk Dziejma

Photo by Patryk Dziejma

Vorurteil Nummer 1: Magersüchtige hassen Essen

Das ist falsch. Während meines Klinikaufenthaltes habe ich sehr viele Betroffene kennengelernt. Und wir alle haben Essen geliebt. Anorektische Personen setzen sich sehr intensiv mit Nahrungsmitteln auseinander. Essen ist eine Sache, die unseren Tagesablauf und das Denken bestimmt. Wir mögen zwar jede einzelne Kalorie studieren, gewisse Nahrungsmittel vermeiden, aber wir können den ganzen lieben langen Tag darüber reden. Ich kenne Betroffene, die von Schokolade und Pizza geschwärmt haben, aber sie konnten es selbst einfach nicht essen. Zudem backen und kochen viele Betroffene leidenschaftlich gerne und das auch gut. Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie viele Kuchen ich in meiner schlimmsten Phase gebacken habe. Ich war verrückt danach, meine Familie zu bekochen. Auch Foodfotografie hat mich damals bereits sehr begeistert. Andere Betroffene, die ich kennengelernt habe, haben sogar eine umfassende Sammlung an Koch- und Backbüchern zu Hause. Ich kann mich noch daran erinnern, dass ich selbst während meiner schlimmsten Phase gerne Koch- und Backbücher in- und auswendig studiert habe. Auch jetzt würde ich am Liebsten zig Rezepte ausprobieren und sie auf dem Blog hochladen. Doch davor distanziere ich mich momentan. Es würde mir zu heuchlerisch vorkommen, außer wenn ich weiß, dass ich es auch wirklich gegessen habe. Wenn ich aber die Kraft aufbringen kann und es dann auch selbst esse (momentan sieht es gut aus), möchte ich weiterhin Rezepte online stellen.

 

Orangensaft

Photo by agnieszkawanda

Vorurteil Nummer 2: Wir essen nur orangensaftgetränkte Watte und trinken nur schwarzen Kaffee

In der Tat wurde ich einmal gefragt, wie Watte schmeckt, die in Orangensaft getränkt wurde. Woher soll ich das wissen? Ich habe es noch nie probiert und würde auch nie auf die Idee kommen, mich mit Watte vollzustopfen. Es kann gut sein, dass es einige machen oder dass es in der Magermodelwelt praktiziert wird. Das sind jedoch nur Vermutungen meinerseits. Ich hingegen kenne keine/n AnorektikerIn, die/der das macht. Und ich würde niemanden dazu raten, es zu machen. Watte besteht oftmals nicht nur aus Baumwolle, sondern auch aus Kunstfasern. Im schlimmsten Fall kann es sogar sein, dass die Watte operativ entfernt werden muss.

Wie diese Person auf so einen Schwachsinn gekommen ist, weiß ich nicht. Die verwunderte Gegenfrage des Fragestellers lautete jedoch: „Machen das denn nicht alle Magersüchtige?“ Ähm, nein! Und wir trinken auch nicht nur schwarzen Kaffee. Klar, Milch ist so eine Sache – Liquid Calories. Mit denen hatte ich aber immer weniger Probleme. Ich trinke meinen Kaffee seit eh und je mit Milch – viel Milch und Milchschaum. Die Mädels, die ich in der Klinik kennengelernt habe im Übrigen auch. Man kann nicht alle in einen Topf werfen. Die einen vermeiden diese Nahrungsmittel, andere Betroffene andere Nahrungsmittel. Es gibt viele, die mit Milch unheimlich viele Probleme haben, andere wiederum gar nicht (wobei auch meistens zur fettreduzierten oder laktosefreien Variante gegriffen wird).

 

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Photo by Francesco Gallarotti

Vorurteil Nummer 3: Wir haben einen unersättlichen Bewegungsdrang

Stimmt nur bedingt. In der Klinik war nur eine Betroffene, die gerne Sport gemacht hat. Sie war übrigens Sportstudentin. Wir anderen waren nicht wirklich sportlich. Zudem hatten die meisten von uns Bewegungsverbot und durften erst ab einem bestimmten Gewicht an der Sporttherapie teilnehmen. Viele machen zwar übertrieben viel Sport und haben diesen Bewegungsdrang. Das trifft aber nicht auf alle zu. Ich persönlich musste mich immer zum Sport zwingen. Als ich mein Tiefstgewicht erreicht hatte, hatte ich jedoch keine Kraft mehr, um Sport zu praktizieren. Ich war zwar immer noch hibbelig und konnte nicht damit aufhören, mit meinen Beinen zu wippen, aber allzu viel Sport konnte ich nicht mehr machen. Nur zu Beginn meines Klinikaufenthaltes habe ich heimlich in meinem Zimmer Zumba und Pilates gemacht. Ich glaube aber auch nur deswegen, weil ich wusste, dass ich jetzt wieder essen MUSS. Und zwar ALLES, was mir aufgetischt wurde. Auch für diese Sporteinheiten hatte ich nicht lange Kraft. Nachdem ich einmal erwischt worden bin, habe ich es gleich ganz bleiben lassen. Nicht wegen des heftigen Anschiss‘ der Stationsschwester oder der Tatsache, dass ich nachfolgend unter Dauerbeobachtung stand, sondern weil die Kraft ein für alle Mal aufgebraucht war.

Erst zwei Wochen vor meiner Entlassung hatte ich das Gewicht, welches mir erlaubte, an der Sporttherapie teilzunehmen. Doch mein Interesse danach war zu diesem Zeitpunkt nicht mehr allzugroß. Obwohl es momentan ernährungstechnisch bei mir nicht so gut läuft, habe ich schon lange keinen Sport mehr gemacht und auch kein Bedürfnis danach. Ich habe jetzt zwar wieder zugenommen (BP-Phase sei Dank -.-*) und es kotzt mich auch an, das gebe ich offen und ehrlich zu, aber trotzdem bin ich momentan eher weniger motiviert, Sport zu machen.

 

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Photo by countessad

Vorurteil Nummer 4: Magersüchtige eifern Models und anderen Prominenten nach

Das ist nicht richtig. Sollte dieser Vorwurf stimmen, spricht man eher von einem Magerwahn, aber nicht von Magersucht. Der Magerwahn und Magersucht sind zwei verschiedene Paar Schuhe. Ich werde nicht müde zu erwähnen, dass Magersucht eine Krankheit ist, die im Kopf beginnt. Es ist eine mentale Krankheit, hinter der sich oft weitaus andere Hintergründe verbergen, als bloß der reine Wunsch, schlank und schön zu sein. Magersucht ist oft die Folgeerscheinung von traumatischen Erlebnissen. Das kann von leichten, verletzenden Erlebnissen bis hin zu schwerwiegenden Traumata reichen. Ich selbst frage mich oft, warum es dann mich erwischt hat. Ich habe ein stabiles familiäres Umfeld, einen beständigen Freundeskreis und hatte eine ganz normale Kindheit. Es müssen allerdings nicht nur extreme Fälle, wie ein sexueller Übergriff zu einer Essstörung führen, sondern können bei scheinbar harmlosen Dingen beginnen. Auch Verluste, wie Todesfälle oder das Ende einer Beziehung können in so einen Strudel führen. Es ist also nicht (nur) der Traum, wie ein VS-Model auszusehen. Ob ich noch konkret auf meine Auslöser eingehen werde, weiß ich nicht. Ich müsste einerseits sehr stark in mich gehen und andererseits weiß ich gar nicht, wie persönlich dieser Post dann werden würde. Wahrscheinlich sehr persönlich.

 

Photo by Milada Vigerova

Photo by Milada Vigerova

Vorurteil Nummer 5: Magersüchtige haben kein soziales Leben und verschanzen sich permanent in ihrem Zimmer

Es gibt diese Momente, wo man einfach keinen Menschen um sich haben und den lieben langen Tag nur im Bett liegen möchte. Das ist wohl bei jedem Menschen so. Bei Menschen mit Essstörungen mag dies vielleicht ausgeprägter sein, aber das heißt nicht, dass wir nicht dazu in der Lage sind, ein soziales Leben zu führen. Meines ist sogar sehr ausgeprägt, um ehrlich zu sein. Das liegt womöglich auch daran, weil ich Freunde habe, die sehr bemüht um mich sind und mich gerne auf andere Gedanken bringen. Im Spätsommer zog ich mich zwar immer mehr zurück und es fiel mir schwer, mich mit meinen Mädels zu verabreden, jedoch wollte ich mich nicht selbst aus der Gesellschaft ausschließen. Ich fühlte mich schon sehr geschwächt und war bereits bei meinem Limit angekommen. Trotzdem möchte ich mir von dieser dummen Krankheit nichts versauen lassen. Schon gar nicht mein soziales Leben. Das ist auch der Grund, warum ich mit dieser Krankheit gut leben kann. Einfach deswegen, weil sich diesbezüglich nicht so viel geändert hat. Vor knapp fünf Jahren, als die Krankheit ihren Höhepunkt erreicht hat, war es fast genauso. Ich versuchte immer, ein soziales Leben aufrecht zu erhalten. Zwar war es eingeschränkter, als früher, aber es war immer noch vorhanden.

 

Vorurteile

Vorurteil Nummer 6: Alle Anorektiker sind Pro-Ana oder ATTE (Ana Till The End)

NEVER! Ich bin seit jeher gegen Pro-Ana. Ich war noch nie in meinem ganzen Leben auf einer Pro-Ana-Seite. Leidet man unter dieser Krankheit, muss man sich schnell das Vorurteil gefallen lassen, Pro-Ana zu sein. Das ist ein Lebensstil, den ich in meinem ganzen Leben nie unterstützen würde. Ich habe nie nach einer Pro-Ana-Website gesucht. Lediglich diese fragwürdigen Ana Gebote sind mir bekannt, aber die kennt wohl jeder und werden sogar im Schulunterricht kritisch behandelt. Ansonsten wurden sie auch in den Medien gezeigt – natürlich nicht, um Pro Ana zu verherrlichen, sondern um auf die Gefahren aufmerksam zu machen.

Ich kenne den Text und kann Zeile für Zeile nur den Kopf schütteln. Diese Gebote sind verstörend. Furchteinflößend. Die Anorexie wird personifiziert und glorifiziert. Angebetet, wie eine Gottheit. Menschen, die wirklich unter dieser Krankheit leiden und sie nicht nur haben, sind im Grunde meistens dagegen. Ich selbst bin Pro-Recovery. Recovery bedeutet, dass man etwas gegen diese Krankheit unternehmen möchte. Und das ist gerade der Weg, den ich versuche, zu gehen.

 

Comments

  • 15. Februar 2016

    Ich finde es mutig, darüber zu schreiben. Ich habe Respekt vor dir! Dein Beitrag gibt einem nochmal eine andere Sichtweise auf diese Krankheit. Damals in der 10.Klasse habe ich über Essstörungen meine Facharbeit geschrieben und merke nun immer wieder, wie viel Blödsinn ich aus dem Internet gesiebt habe und musste schon feststellen, dass es oftmals ganz anders ist. Das hat mir dein Post auch eben wieder gezeigt. Ich finde dein Beitrag gerade deswegen gut, weil du diese Vorurteile damit hoffentlich ein für alle mal aus dem Weg räumst. Den ganzen Quatsch wird dir auch in der Schule erzählt, z.B. das die Mädchen und Frauen, die Magersucht leiden, dass nur tun, um dünn und schön zu sein. Doch das stimmt nicht, ganz und gar nicht! Das Buch von Lilly Lindner hat mir auch etwas die Augen geöffnet. Kennst du das Buch Splitterfasernackt?
    Wundervoller Beitrag! Weiter so! Und bleib stark!

    Liebe Grüße

  • 21. Februar 2016

    Ich finde es wundervoll, dass Du dir diese Vorurteile einmal zur Brust genommen hast und als jemand der es definitiv besser weiß, diese aus der Welt schaffen kann. Ich muss zugeben, dass sicherlich mindestens ein Aspekt dabei ist, von dem auch ich glaubte, dass er zutreffe. Aber nicht aus Boshaftigkeit, sondern einfach aus Unwissenheit! Respekt, wie mutig du damit umgehst!!!

  • SOphie
    24. August 2022

    Als Erstes: Danke und Respekt für diesen Tollen Artikel! Du hast diese Vorurteile wirklich Ehrlich und Nachvollziehbar widerlegt. Zudem bist du nicht scheu gewesen eigene Erfahrungen mit einzubringen.

    Als Zweites: Ich schreiBe bald eine Facharbeit über das Thema: Gesellschaftliche Auffassung von Essstörungen. Dazu würde ich dir gerne, wenn es für dich in Ordnung ist, ein Paar Fragen Stellen:) Wenn du Lust hast, würde ich mich über deine Antworten sehr freuen.

    – wie oft begegnen dir solche Vorurteile?
    – Denkst du diesem Thema wird genügend Aufmerksamkeit gewidmet?
    – Wird es oft als „nichts“ abgetan?

    Das sind so die ersten Fragen die mir gerade einfallen. Wie gesagt, würde es mich freuen, deine Meinung dazu zu lesen:)

    Ganz liebe Grüße und alles Gute, Sophie:)

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