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Lisa Reiter

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Kolumne: Die Sache mit dem Älterwerden

Wir haben Oktober. Somit ist es bis zu meinem Geburtstag nicht mehr weit. Es wird mein letzter 20er sein. Nächstes Jahr werde ich dreißig. Eine Zahl, vor der ich mich schon vor meinem 20. Geburtstag gefürchtet habe. Ich erinnere mich noch genau an meine Kindheit. Als ich klein war, war dreißig in meinen Augen steinalt. Als Jugendliche sah ich das genauso. Wahrscheinlich war eure kindliche/jugendliche Perspektive ähnlich. Die Angst davor ging lange nicht weg und blieb bis Mitte 20. 

Nur – je näher diese Zahl jetzt kommt, umso weniger stört sie mich. Ich lebe inzwischen ein Leben, mit dem ich vollkommen zufrieden bin. Auch wenn sich mein Leben Grund auf von dem Leben unterscheidet, welches ich mir in meinen Early 20s ausgemalt habe. Ich denke, wir alle haben bestimmte Zukunftsvorstellungen – insbesondere von dem, was wir bis zu unserem 30. Geburtstag erreicht haben möchten. 

Bei mir war es, wie bei so vielen anderen auch, die klassische Zukunftsvorstellung: mit 30 bin ich verheiratet, habe zwei Kinder und bereits eine steile berufliche Karriere. Und natürlich bringe ich meinen Top-Job mit Ehemann und Kind super unter den Hut. Ich würde in meinem Traumhaus mit Garten leben und würde ein teures Auto fahren. 

Tja, was ist von dem eingetreten? Gar nichts. Weder bin ich Mutter, noch bin ich beruflich dort, wo ich bereits sein möchte, noch fahre ich ein eigenes Auto (wobei, das soll bald kommen) und mein Traumhaus wurde auch noch nicht gebaut. Ich trage keinen Ehering am Finger und bin somit unverheiratet. Doch heute stört mich das viel weniger, denn wie bereits gesagt: ich lebe das Leben, mit dem ich voll und ganz zufrieden bin. 

Ich habe trotzdem einen tollen Job, fantastische Freunde, lebe in einer glücklichen Beziehung und mit meinem Freund sogar in einem kleinen Haus mitten in der Stadt, aber dennoch mit viel Grünflächen. Doch eine Sache gibt es trotzdem, die mich gewaltig stört: wenn ich ständig an meinen bevorstehenden 30. Geburtstag erinnert werde oder ich nicht mehr in meinen Zwanzigern sein darf, sondern schon in meinen „Fast Dreißigern“ bin.  

Kolumne: Die Sache mit dem Älterwerden

Wie wir "Alters-Ängste" schüren

Wir sollten uns gegenseitig unterstützen, anstatt Zweifel hervorzurufen

Mir kommt vor: seit meinem 28. Geburtstag bin ich nicht mehr in meinen 20ern, sondern „fast 30“. Und das stört mein Vorhaben, im Hier und Jetzt zu leben. Versteht mich nicht falsch: ich finde es unfassbar wichtig, sich Gedanken um die Zukunft zu machen. Bei mir persönlich ist es natürlich meine berufliche Karriere und das Haus, das ich gerne einmal bauen und in dem ich leben möchte. Mir ist klar, dass ich in der Hinsicht vorausschauend denken muss. Ich muss mich jetzt im Job beweisen, um mich hochzuarbeiten. Und ich muss jetzt Geld zur Seite legen, damit ich mir das Traumhaus erfüllen kann. Logisch. Das macht auch Sinn und ist wichtig. Doch was ich nicht mag: wenn man Witze über mein Alter macht oder mich damit aufzieht, dass mein 30. Geburtstag bei mir nicht mehr in allzu weiter Ferne ist. Denn Alter ist nur eine Zahl und nichts, was mich als Menschen oder als Frau ausmacht.  

Für viele Frauen (aber natürlich auch Männer) ist die 30 ein Graus. Kein Wunder. Unser gesellschaftliches Bild suggeriert uns, dass wir in unseren 20ern in den besten Jahren sind und es danach vorbei ist. Quasi als wären alle Chancen verspielt, sich selbst zu verwirklichen. 

Insbesondere uns Frauen wird ein hoher Druck auferlegt. Wenn wir mit 30 noch kinderlos sind, werden wir wohl keine mehr bekommen und unser Uterus vertrocknen (um es etwas überspitzt auszudrücken). Wenn wir mit 30 noch keinen Mann haben, werden wir als alte Jungfer (oder Catlady) enden (puh, was hatte ich für ein Glück, dass ich mit 28 noch einen abbekommen habe *sarkasmusover*). Und wenn wir mit 30 noch keine Top-Position im Job erreicht haben – oder bereits eine Boss Woman sind, werden wir beruflich wohl auch nichts mehr erreichen. Gerade das ist KEIN Female Empowerment – denn solche Aussagen kommen gemäß meiner Erfahrung leider meistens von Frauen selbst. Jedoch – sollten wir uns nicht eher unterstützen und beflügeln, anstatt bei der anderen mit solchen Aussagen Zweifel hervorzurufen? 

Kolumne: Die Sache mit dem Älterwerden
Kolumne: Die Sache mit dem Älterwerden

Ich habe keine Angst, älter zu werden

...aber ich habe Angst davor, nicht genug erreicht zu haben

Gerade wenn mein Alter zum Thema wird, kommen plötzlich Ängste in mir auf. Zukunftsängste. Und nicht zu vergessen: Zweifel. Zweifel, ob ich alles in meinem Leben richtig gemacht habe. Oder auch Reue und Wehmut. Ich habe viel Zeit in meinen 20ern verloren. Einerseits durch die Magersucht, durch Therapien und Klinikaufenthalte. Durch die Tatsache, dass ich mich von meinen Freunden sozial isoliert habe. Eine Zeit, in der ich zu meinen liebsten Menschen oft gemein war, oder sie nicht an mich herangelassen habe. Zeit, die ich durch instabile Beziehungen verloren habe oder durch die langwierige Trauerzeit, nachdem mein Vater gestorben ist. 

Weder will ich jammern noch Mitleid, denn ich bin mir immer noch über die Privilegien bewusst, die mir zur Verfügung stehen. Doch meine Early 20s waren keine einfache Zeit für mich. Die meisten meiner Freunde jedoch konnten diese Zeit unbeschwerter genießen. Zugegeben: darum beneide ich sie. Ich wünschte mir, dass ich dieses Glück auch gehabt hätte. Natürlich weiß ich, dass ich selbst auch einiges dafür tun hätte können. Zum Beispiel, indem ich meine Recovery schon damals ernstgenommen hätte. Doch ich bin meinen Weg nunmal so gegangen, wie ich ihn gegangen bin. 

Aber jetzt geht es mir gut. Jetzt bin ich glücklich. Ich habe endlich die richtige berufliche Richtung gefunden. Eine Richtung, die ich weiterhin eifrig verfolgen möchte. Ich bin glücklich in meiner Beziehung und auch mit meiner Familie verstehe ich mich gut. Eigentlich lebe ich jetzt das unbeschwerte(re) Leben, das ich mir immer gewünscht habe. Plus: ich fange jetzt erst so richtig an, meinen Weg zu gehen, um meine Ziele zu erreichen. Denn es hat lange gedauert, um überhaupt die richtigen Ziele für mich herauszufinden. Um zu wissen, was ich auch tatsächlich aus meinem Leben machen und was ich erreichen möchte. Und gerade darum halte ich so stark daran fest, dass ich weiterhin in meinen 20ern und noch nicht in meinen 30ern bin. 

Ich will die letzten Jahre meiner 20er genießen dürfen, als eine Frau, die in ihren 20ern ist. Und ich will nicht das Gefühl haben, dass es jetzt schon zu spät ist, noch etwas zu erreichen. Jetzt, wo ich meine Weg erst so richtig aufgenommen habe. Ich will nicht an mir zweifeln. Schon gar nicht an dem Punkt, an dem ich gerade stehe. Ich verstehe weder, warum 30 gesellschaftlich auf einmal so verpönt ist, noch warum man sich so extrem viel darauf einbildet, wenn man von der 30 noch weit entfernt ist. Lasst uns doch lieber das Leben feiern und das Privileg, wenn wir Älterwerden dürfen. Denn das ist auch keine Selbstverständlichkeit.

Kolumne: Die Sache mit dem Älterwerden
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Est. 2012

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