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Lisa Reiter

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Ich kann keinen klaren Gedanken fassen. Meine Hände zittern. Mein Körper bebt. Ich merke dieses kühle Gefühl. Dieses kühle Gefühl, wie es sich langsam über meine Zunge zieht, meinen Gaumen durchfährt, die Speiseröhre hinabgleitet und es schlussendlich in meinem Magen landet. Ein zuckersüßer Geschmack, der auf der Zunge haften bleibt, beraubt mich um meine Sinne. „Es bleibt bei einem“, sage ich mir. „Es bleibt bei einem.“

Immer wieder merke ich, wie mir diese Wörter durch den Kopf fahren. „Es bleibt bei einem.“ Ich sage es mir sogar vor. Laut und deutlich. So, als ob ich meine eigene Mutter wäre, die mir gerade eine Grenze setzt. Doch es bleibt nicht bei einem. Ich merke, wie sich das Dopamin in meinem Körper ausbreitet. Und mein Körper wird hellhörig. Er will mehr. Viel, viel mehr. Viel mehr, als ich bereit war, ihm zu geben. „Es bleibt bei einem.“ Verzweifelt klammere ich mich an diese Worte. „Es bleibt bei einem.“ Ein Eis und dann war es das. Das Verlangen jedoch wird größer. Was mit einer Kugel Vanilleeis anfing, endet damit, dass ich mich träge auf dem Sofa wälze. Wimmernd vor Schmerzen, die mir so unangenehm gegen die Magenwand drücken. Ich habe die Kontrolle verloren. Schon wieder. 

 

Kontrollverlust

…und der Selbsthass danach

Ich glaube, heute teile ich wohl eine der persönlichsten Momente, die ich in meiner Essstörung je durchlebt habe. Die Momente, für die ich mitunter das meiste Schamepfinden verspüre: Essattacken und der totale Kontrollverlust. 

Hand aufs Herz. Wie sieht das Bild einer klassischen Magersüchtigen aus? Womit assoziiert ihr die Krankheit? Mit eiserner Disziplin, Sport- und Bewegungsdrang und dem restriktiven Verhalten, permanent zu hungern? Falsch! Ich habe euch schon einmal die Subtypen von Magersucht vorgestellt. Fest steht: Insgesamt gibt es zwei verschiedene Typen von Magersucht. Den restriktiven Typus, somit das klassische Bild einer magersüchtigen Person und den Typus Binge/Purge. Die Wahrheit: Nur ein geringfügiger Prozentteil aller an Magersucht erkrankten Personen ist restriktiv. Die meisten leiden unter dem Subtypus Binge/Purge.

 

So auch ich!

 

Ich habe oft beiläufig erwähnt, dass ich im Laufe meiner Krankheit gelegentlich Essattacken hatte. Jedoch bin ich nie näher darauf eingegangen. Warum? Weil ich mich so sehr dafür geschämt habe und mich immer noch dafür schäme. Weil ich es nie ertragen konnte, nicht rein restriktiv zu sein. Restriktiv war ich am Anfang meiner Krankheit. Doch irgendwann konnte ich diese eiserne Disziplin nicht mehr aufrecht erhalten. Ich verfiel in den Typ Binge/Purge. Obwohl ich sehr selten Essattacken hatte, waren sie trotzdem da. Immer wieder kam es im Laufe dieser Krankheit zu hässlichen Fressanfällen, die für mich persönlich eine größere Qual darstellten, als der Hunger, den ich irgendwann eigentlich gar nicht mehr als Qual empfand. Während einer Essattacke gab ich meine Kontrolle auf. Genau das Attribut, was einer anorektischen Person am wichtigsten ist. KONTROLLE.

 

Essattacken in der Magersucht?

Warum kommt es dazu?

Lange Zeit hatte ich nicht den Mut, über diese Phasen meiner Essstörung zu sprechen. Das Warum habe ich anfangs erklärt. Doch nicht nur die Scham spielt eine Rolle, sondern auch große Schuldgefühle. Gestern jedoch habe ich mir Klaras Podcast angehört, in welchem sie von Binge Eating spricht. Auch Kerstin hat gestern in ihrer Instagramstory das Thema angesprochen. Zwei starke Frauen, die ich persönlich bewundernswert finde. Es ist auch wirklich eine starke Sache offen und ehrlich Binge Phasen zuzugeben.

Auch wenn Binge Eating Disorder für mich nichts neues ist, ich habe mich deswegen so sehr geschämt, weil ich immer folgenden Gedanken im Kopf hatte: „Als Anorektiker DARFST du KEINE Essattacken haben!“ – darum habe ich die Krankheit nie einsehen können. Heute weiß ich: Essattacken sind keine Schande. Im Grunde genommen war es eine natürliche Reaktion meines Körpers, denn: ER WOLLTE NUR ÜBERLEBEN!

Seit Urzeiten an haben wir Menschen Instinkte. Wie der Name schon verrät, hat das nichts mit unserem Verstand, rein gar nichts mit unserem rationalen Denken zu tun. Unsere Instinkte bringen uns zu Handlungen, über die wir nicht nachdenken. Instinkte werden sozusagen von unserem Körper gesteuert, nicht von unserem rationalen Individuum. Selbst eine Magersucht ist bei den meisten Betroffenen nicht stark genug, um menschliche Instinkte zu zerstören. Natürlich haben nicht alle Betroffenen Essattacken. Warum die einen sie bekommen und die anderen nicht, kann ich nicht wirklich beantworten. Doch Fakt ist: Kommt es zu Essattacken in einer Magersucht, will der Körper sein Überleben sichern. Er ist verzweifelt und hat Angst, zu sterben.

Ich habe teilweise in extremen Kaloriendefiziten gelebt. Ausgehend von der empfohlenen Tagesmenge von ca. 2.000 Kalorien, hatte ich nach einer Woche oft ein Kaloriendefizit zwischen 7.000 bis 10.000 Kalorien. Summiert man das auf drei Wochen (so lange lagen die Essattacken meistens auseinander) kommt man auf unglaubliche 21.000 bis 30.000 Kalorien. Es wundert mich ehrlich gesagt, dass mein Gehirn nicht öfters ausgeschaltet und meinen Instinkten die Kontrolle übergeben hat.

 

Trotz Essattacken

Die Diagnose Magersucht ändert sich nicht

Essstörungen sind ein komplexes Thema. Laut DSM5 oder ICD-10 müssen diverse Kriterien erfüllt werden, um die jeweilige Diagnose zu erhalten. Davon gibt es Grundvoraussetzungen, die erfüllt werden müssen, sowie verschiedene Symptome aus einer ganzen Symptomliste, die auftreten können. Bei niemanden verläuft eine Essstörung exakt gleich. Dass meine Binge Phasen charakteristisch für eine Magersucht sein können, habe ich erst in meinem Studium begriffen, als ich die Vorlesung „Klinische Psychologie“ besucht habe. Erst da wurde mir bewusst, dass ich trotz Binge Phasen wirklich diese Krankheit hatte und sich meine Diagnose dadurch nie verändert hat.

Zwischen den Essstörungsarten Anorexia Nervosa und Bulimia Nervosa gibt es oftmals nur schmale Unterschiede. Ein Beispiel: Nur weil man gelegentlich in der Magersucht erbricht, ist es keine Bulimie. Darum hatte ich trotz Essattacken nie Bulimie. Es gab zwar Momente, an welchen ich erbrochen habe, aber nicht indem ich mir ganz klassisch den Finger in den Hals gesteckt habe, sondern weil ich so voll war, dass es von selbst ging. Außerdem war die Frequenz meiner Essattacken viel zu selten für eine Bulimie (mind. dreimal die Woche). Zum Glück. Mit meiner Anorexie kam ich zumindest psychisch gut zurecht (ich weiß, ich habe es mir nur eingeredet), aber Bulimie hätte mich wahrscheinlich merklich zerstört.

Die nicht sehr hoch frequentierten Essattacken waren der reinste Albtraum für mich. Ein wahrgewordener Horror. Eine Qual. Wenn ich mir vorstelle, ich hätte diesen Horror mehrmals in der Woche durchleben müssen, wird mir ganz anders. Ich glaube, es hätte mich wesentlich schneller zugrunde gerichtet, als die Anorexie.  

 

Kontrollverlust & der Selbsthass danach

 

Wie fühlt sich eine Essattacke an?

Es ist schwer zu beschreiben, wie sich eine Essattacke anfühlt. Bei mir hat es immer so begonnen, dass ich mir gedacht habe: „Ach ein Eis/Kuchen etc. wird mich nicht gleich dick machen.“ Ich habe dann einfach etwas davon gegessen und dann ist es ausgeartet. Sobald meine Zunge etwas geschmeckt hat, was ich mir sonst immer verboten habe, kam es zu einem totalen Kontrollverlust und ich konnte nicht mehr damit aufhören, bis ich mir irgendwann gedacht habe: „Jetzt ist es auch schon egal.“ Manchmal kamen mir schon während dem Bingen die Tränen vor Verzweiflung, weil ich es stoppen wollte, aber nicht konnte. Ich konnte einfach nicht und habe so lange weitergemacht, bis ich nichts kauen konnte. Und bis es zu diesem Zeitpunkt kam, war ich zuvor schon längst satt.

Ich konnte das Essen nicht wirklich genießen. Man isst einfach. Man isst, isst und isst. Am Anfang noch die Dinge, die man vom Geschmack her mag, danach alles, was verfügbar ist. Und ja, ich habe in diesen Momenten auch Salami, Schinken, Spaghetti Bolognese und Chickenwraps von McDonalds gegessen, obwohl ich sonst kein Fleisch esse. Das heißt, man wirft nicht nur seine Kontrolle über Board, sondern auch seine ethischen Werte, die man vertritt. Ich habe sogar eine Veganerin kennengelernt, die in ihren Binge Phasen ebenso tierische Produkte konsumiert hat.

 

Es wird dir egal. Du isst einfach!

 

Ich habe zu Schokolade gegriffen, obwohl ich sie nicht sonderlich mag, habe Marillenkrapfen verschlungen, obwohl ich Marillenmarmelade hasse – Hauptsache ungesund, fettig und/oder extrem süß. Du willst einfach nur essen. Und ich habe sogar -und dafür schäme ich mich wohl am meisten- meinem Neffen damals den Babyfruchtbrei, die Babykekse und später seine Kinderschokolade und Smarties-Joghurts weggefuttert.

Ich habe diese ganze Esserei nur in Trance erlebt. Je satter ich wurde, umso mehr bekam ich es nicht mehr mit, was ich alles aß. Der erste Essanfall hielt sich noch im Rahmen, doch auch wenn sich die Frequenz ihres Auftretens nie wirklich änderte, so änderte sich doch die Intensität. Das heißt, es wurde immer mehr und mehr. Meistens erreichte ich zwischen 6.000 – 7.000 Kalorien, doch aufgrund dieser tranceartigen Zustände kann ich es nicht konkret sagen, wie viel es wirklich war.

 

Wie fühlt sich das danach an?

Ich glaube, es gibt kein schlimmeres Gefühl, als das danach. Neben Schuldgefühlen und Scham habe ich einen extremen Ekel vor mir selbst entwickelt. Einen riesengroßen Selbsthass. Ich konnte mich im Spiegel nicht mehr ansehen. Mein Bauch spannte, war aufgebläht und ich fühlte mich so widerlich. Widerlich und leer. So leer, dass ich danach oft nicht mehr weinen konnte. Am Tag danach konnte ich kaum aus dem Bett. Ich konnte nur schlafen, schlafen, schlafen. Dadurch habe ich viele Uni-Vorlesungen versäumt. Niemand sollte mich sehen. Es war unmöglich, anderen Menschen unter die Augen zu treten. Ich konnte mich am nächsten Tag nicht mal duschen, weil ich mich selbst nicht einmal nackt sehen konnte. Ich habe mich so sehr vor mir selbst geekelt, mich dann später zu extremen Hochleistungssport gezwungen. Man mag meinen, dass man danach wieder genug Energie hat, aber das war nicht der Fall. Man fühlt sich schwach und träge, so als hätte man einen Kater vom Essen.

Am darauffolgenden Tag konnte ich meistens auch gar nichts essen, bis am zweiten Tag wieder die ganze anorektische Hungerei von vorne losging. So lange, bis mein Verstand irgendwann wieder aussetzte und alles von vorne begann. Erst in der Klinik kam ich von diesen Essanfällen los, doch in den Rückfällen passierte es wieder.

 

Wie werde ich Essattacken los?

Ich bin bestimmt noch nicht so weit, um Tipps gegen Essattacken geben zu können. Dass wir unserem Körper alle Makros und genügend Kalorien, sowie ausreichend Mikronährstoffe zuführen müssen, ist uns allen bekannt. Mehr kann ich euch in der Hinsicht noch nicht mit auf den Weg geben. Aber hört unbedingt mal bei Klaras Podcast rein oder schaut euch das Video von Natacha Ocean an. Zwei inspirierende Frauen, die selbst mit Essattacken Erfahrungen gemacht haben und für sich einen Weg gefunden haben, damit umzugehen.

 


 

Pictures via  Unsplash

 

Comments

  • 18. Mai 2018

    Ich finde es unglaublich mutig, dass du nun über das Thema sprichst und ich kann mir vorstellen, dass dir das nicht leicht gefallen ist. Ich habe davor den allergrößten Respekt und glaube, dass du vielen schon alleine damit weiterhilfst, dass sie sich verstanden fühlen bzw. nicht so alleine. Meine Mum hatte in der Jugend Magersucht, erzählt aber nur selten von der Zeit, jedoch spüren wir die Auswirkungen noch heute.

  • 20. Mai 2018

    Vielen Dank für die Markierung! 🙂
    Das Thema ist schwierig, aber ich bin mir sicher, dass du mit diesem Blogpost auch anderen helfen kannst. Das größte Problem sind leider die eigenen Schamgefühle und der Selbsthass, doch die Erkennung, dass der Körper nur überleben will, dass man sich nicht durch sein Verhalten definieren sollte, ist so wichtig! 🙂
    Alles Liebe,
    Klara
    https://klarafuchs.com

  • 22. Mai 2018

    Vielen Dank fuer diesen wichtigen Beitrag. Eine sehr enge Freundin von mir hatte Bulimie, mit mehreren Essattacken in der Woche. Da wir auch zusammen gereist sind und auch zuhause sehr oft Zeit verbracht haben, habe ich das ziemlich genau mitbekommen. Mir fiel es sehr schwer, mich in ihre Situation hineinzuversetzen, ich wuenschte ich haette zu der Zeit schon so einen Beitrag, wie Deinen zu lesen gehabt. Aufklaerung ist da wirklich wichtig und hilft wahrscheinlich auch den Betroffenen sehr. Zum Glueck konnte meine Freundin durch ihre Familie unterstuetzt, sich dann zu einer Therapie in einer Klinik durchringen. Heute ist sie ganz gesund und hat ein voellig normalen Bezug zum Essen. LG Jennifer von https://fashionistasfairytale.blogspot.de/

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