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Alltag mit Magersucht

TRIGGER WARNING!!

Es ist 21 Uhr. Mein Magen knurrt. Ich fühle mich schwach und wie in Watte gepackt. Es tut weh. Der Hunger tut weh. Gleichzeitig fühlt es sich so gut an. Obwohl mein Körper kaum noch Energie hat, fühlt sich mein Wille stark an. Stärker denn je. Und genau das ist der Nährboden. Mein Nährboden weiterhin Stärke & Kraft aus dieser ganzen Situation zu ziehen. Mein Nährboden, um durchzuhalten, obwohl ich mich tagein tagaus weiterhin tiefer in einen Trug hineinreite. 

Um 21 Uhr war Schluss. Nicht Schluss mit dem Aushalten oder meinen perfiden Regeln. Schluss, mir auch nur noch irgendetwas zuzuführen. Ich hatte meine Regeln. Meine ganz eigenen Regeln, die ich mir aber gleichzeitig aus den Internetforen abgeschaut hatte. In Pro Ana Foren war ich nie unterwegs, aber durchaus in Mädchenforen, wo ich mir einige Verhaltensweisen abgeschaut hatte. Versteckt unter dem Deckmantel, sich gegenseitig aus der Essstörung herauszuhelfen, ritten wir uns mit den Schilderungen aus unserem Anorexie-Alltag noch weiter in die Misere, indem wir die jeweils andere nachahmten oder eine falsche Motivation daraus zogen. Die Mädchen schwärmten von Schokoriegeln, Milchshakes und dem Wunsch, dass einfach alles vorbei sein würde. Dass das Leben wieder normal sein würde. Ohne Essstörung. Aber wollten wir das? Wollten wir nicht viel lieber verschwinden? Wir ließen uns mitreißen in einer Welle, die sich immer weiter auftürmte und an einer Brandung des Scheiterns zerbrach. Das Scheitern, die Krankheit aufzugeben. Genau das begleitete auch mich in meinem Alltag der Magersucht. 

Das Essen verbot ich mir schon früher am Tag. Meine Deadline möchte ich nicht genau benennen, doch aus den anfänglich frühen Abendstunden, war die Deadline ganz zum Schluss bereits der frühe Nachmittag. Meinen Kalorienbedarf habe ich bis dahin natürlich noch nicht gedeckt. Im Grunde genommen habe ich den schon lange zuvor nicht mehr gedeckt. Wie wäre ich sonst auch so krankhaft dünn geworden? 

Auch wenn jede Episode meiner Magersucht anders verlaufen ist, möchte ich euch heute einen Einblick in die Zeit meiner Magersucht geben und wie der Alltag wirklich aussieht. Wenn du das Gefühl hast, es könnte dich triggern, dann vermeide diesen Beitrag, auch wenn ich alles geben werde, um diesen Beitrag so wenig triggernd zu schreiben, wie möglich. Vielmehr möchte ich euch vor Augen führen, dass im Magersuchtsalltag alles verborgen bleibt. Dein Glück, deine Selbstliebe, deine Zufriedenheit – ALLES! Du lebst in deiner Hülle, in deiner ganz eigenen Blase und merkst dabei nicht, wie du immer mehr verschwindest. Wie dein Leben verschwindet, wie es an dir vorbeizieht und wie viele schöne, kostbare Momente du dabei verspielst. Du gehst zugrunde. An einer Krankheit, die es nicht wert ist, dass man an ihr zugrunde geht. 

So war mein Alltag in der Magersucht

Meine Magersucht begann harmlos. Zumindest redete ich mir ein, dass sie harmlos begann. Doch schnell fand ich mich in einem sich täglich wiederkehrenden Hamsterrad wieder, das immer wieder in dieselbe Richtung rotierte. Von Tag zu Tag wurde es schneller, dass eine Flucht praktisch unmöglich schien. Und so zehrte ich meinen Körper in diesem Hamsterrad aus. Kraftlos, aber irgendwie doch willensstark. 

Ganz klassisch drehte sich bei mir alles ums Essen. DEN GANZEN TAG. Es drehte sich ums Kalorienzählen, die Waage und ich konnte sogar eine Woche später noch auswendig aufsagen, was ich die letzten sieben Tage gegessen hatte. Nährwertangaben inklusive. Aus einer Matheniete wurde ein Mathegenie, zumindest was all die Zahlen betraf, die sich mit meiner Essstörung korrelieren ließen. Und daraus ergibt sich eben eine wichtige Zahl, oder besser gesagt Uhrzeit. 21 Uhr. Zu dem Zeitpunkt durfte NICHTS, wirklich gar nichts mehr in meinen Körper. Meine Zähne putzte ich davor, wenn ich Durst hatte, gab es trotzdem kein Wasser mehr. Denn durch meine Magersucht konnte ich nie lange schlafen und es musste ein mindestens 10-stündiges Zeitfenster vor dem Wiegen sein. 

Nach dem Aufstehen führte mich mein erster Weg auf die Waage. Weil ich ungeduldig war – es morgens fast nicht mehr aushielt, nichts zu essen. Manchmal jedoch musste ich warten. Oft schlief ich nur bis fünf oder halb sechs Uhr morgens und das Zeitfenster war mir wichtig. Obwohl ich ungeduldig war. Aber ich hatte Angst, mehr zu wiegen, wenn ich die 10 Stunden nicht abwarten würde. Die Gedanken waren blödsinnig. Dumm. Alles drehte sich nur darum und ich konnte mir diesen Gedanken nicht abschwören. Viel zu oft, viel zu lange habe ich ihn mir eingeredet und irgendwann selbst daran geglaubt.

Es interessierte mich nicht, was stimmte und was nicht. Ich habe mir meine eigenen Regeln aufgestellt, meine eigene „Wissenschaft“ entwickelt und in meiner eigenen kleinen Anorexiewelt stimmte nur das. Das Frühstück war die größte Mahlzeit am Tag, da mein Körper hier noch die längste Zeit hatte, um zu verdauen, bevor ich mich wieder wiegen konnte. In der Realität war sie trotzdem mickrig klein. Und gewogen wurde sich täglich. Danach schrumpften die Mahlzeiten und die Frequenz. Das Hungergefühl war mein bester Freund, aber gleichzeitig auch mein größter Feind. Manchmal hielt ich ihn aus, manchmal gar nicht und manchmal wurde ich zu Essattacken getriggert. Danach stellte sie ein größeres Gefühl der Scham ein. Der Wertlosigkeit. Ich stand Ängste aus, große Ängste, die sich fast wie Panikgefühle anfühlten.

Rückzug, Veränderung, falsche Motivation

Von dem lebensfrohen Mädchen, das ich einst war, war nichts mehr übrig. Als Kind ging ich unbeschwert und manchmal mit der rosaroten Brille durchs Leben. In mir steckte ein kleiner Freigeist, oft mit dem Gefühl inne, die Welt stünde mir als kleines Abenteuer offen. Mein Lachen war ansteckend, meine Unbeschwertheit beneidenswert. Ich ließ mich nicht aufhalten, obwohl ich schon damals ab und zu gemeine Kommentare einstecken musste. Manche waren auch körperbezogen. Aber ich hatte eine stabile Familie, tolle Freunde und ich tat vor allem eines: ich lebte. 

Und genau von dem Leben blieb wenig übrig. Zwar war ich physisch noch da, meine Existenz gab es noch, doch das Leben in mir war ausgehaucht. Innerlich ist mein altes Ich gestorben. Oder um es weniger melodramatisch zu sagen: es wurde in einen Dornröschenschlaf versetzt. 

Ich verbrachte meine Zeit bevorzugt zu Hause. Verkrochen in meinen vier Wänden, die mir Schutz boten. Gleichzeitig fiel mir die Decke auf den Kopf, doch ich wagte nur noch wenige Schritte aus meinem eigenen Schneckenhaus. Die Lustlosigkeit, irgendetwas zu machen, stieg von Tag zu Tag. Während ich gerade in der Anfangszeit noch unternehmungslustig war, mich in meinem Körper irgendwie willensstark und diszipliniert fühlte, verkroch ich mich insbesondere zu Beginn meiner Studienzeit immer mehr in meinem Schneckenhaus. Die Krankheit war vorangeschritten. Die Stärke aus den ersten Abnehmerfolgen mussten einer Unsicherheit weichen. Die Anerkennung von meiner Umgebung verwandelte sich in Getuschele, wenn ich vorbeiging. Jeder wusste, dass etwas nicht stimmte. Ich stritt es ab, wurde scheu und misstrauisch Menschen gegenüber. Es fiel mir schwer, auf neue Leute zuzugehen. Ich schloss nur wenige Freundschaften auf der Uni und widmete mich sonst lieber meinen strengen Berechnungen und Planungen, was die Nahrungsmittelaufnahme betraf. Sogar in den Vorlesungen. Während mein Professor irgendetwas von der elementaren Logik schwafelte, versuchte ich, meine eigene Logik akribisch herauszufiltern, indem ich Tabellen führte. Aber keine Wahrheitstafeln (Anm.: eine Methode der Elementaren Logik), sondern Ernährungstafeln.  

Am Wochenende fortgehen stand für mich nur noch selten zur Debatte. Und wenn, dann wurde es zu einem Spießrutenlauf, in welchem ich wie während eines Marathons zum Sprint ansetzte, mit falscher Motivation in den Augen. Ich ging nicht weg, um Spaß zu haben. Ich ging weg, um Kalorien zu verbrennen. Tatsächlich konnte ich auch an einem scheinbar ausgelassenen Abend mit meinen Freunden nicht von meinen Gedanken ablassen. Man fand mich oft auf der Tanzfläche, immer mit einer Flasche Mineralwasser in der Hand, an der ich den ganzen Abend nuckelte. Alkohol war tabu, rumstehen auch. Ich war nicht auf der Tanzfläche, um ausgelassen mit meinen Freunden zu feiern. Für mich war es eine Art Bestrafung und ein Zeitpunkt, Cardiotraining zu machen. Und eine Bestrafung, weil ich plötzlich niemanden mehr für einen Flirt auf mich aufmerksam machte. Die Männerwelt hatte das Interesse an mir verloren, je dünner ich wurde. Und um ehrlich zu sein: auch wenn es an meinem Ego kratzte, ich mir dachte, ich wäre immer noch zu dick (was nicht stimmte, denn kurz nach meinen ersten Abnehmerfolgen genoss ich viel männliche Aufmerksamkeit, je magerer ich wurde, desto weniger wurde auch die Aufmerksamkeit) – hatte ich auch keine Lust mehr auf Sex. Und wenn es den gab, dann dachte ich auch nur an eines: es ist eine körperliche Aktivität, die Kalorien verbrannte. 

Kontrollverlust

Und irgendwann kam der Zeitpunkt, an dem ich die Kontrolle vollkommen verlor. Kontrolle, ein starkes Wort, denn Kontrolle war das, von dem ich immer dachte, ich hätte sie voll und ganz in meinem fest Griff umschlungen. Dabei habe ich genau diese schon an Tag X verloren. An dem Tag, als ich vor dem Spiegel stand und mir einredete, zu dick zu sein. Als ich den Entschluss fasste, abzunehmen. Gegen das Vorhaben, abzunehmen, ist im Grunde genommen nichts einzuwenden. Wenn man sich nicht mehr wohl in seiner Haut fühlt, gerne etwas ändern möchte und es gesundheitlich auch vollkommen in Ordnung ist, an Gewicht zu verlieren, spricht nichts dagegen. Aber ich wählte den vollkommen falschen Weg. Anstatt zu einem Arzt zu gehen oder eine Ernährungsberaterin zu konsultieren, um langfristig meine Ernährung umzustellen, entschied ich mich vom ersten Tag an für den radikalen Schritt. War es die Angst, nicht an Gewicht zu verlieren? Der Frust? Der Unglaube, es sonst nicht durchzuhalten? Ich weiß es nicht. 

Dann stand ich da. Mein Gewicht stand im höchst anorektischen Bereich (Anm.: Severe Anorexia Nervosa) und schlitterte langsam ins extreme Stadium, also der Bereich, in dem Zwangsernährung durchgesetzt werden kann. Ich begann, regelmäßig Abführtabletten zu schlucken, passte meinen kompletten Tagesablauf, nein, meine komplette Lebensplanung danach an. Ich hungerte, aß zu wenig, dann in einer Essattacke wieder zu viel und so drehte sich das Hamsterrad. Darum kann ich euch genau sagen, wie das Leben mit Anorexie ist: es ist ein absoluter Freiheitsverlust. Hervorgerufen durch grob fahrlässige oder vorsätzliche Taten, die man sich selbst gegenüber begeht. Nicht glücklich zu sein, sondern sich in depressiven Phasen zu befinden, ist das Urteil gegen die Unrechtmäßigkeit, die du deinem Körper antust. Oder die etwas in dir deinem Körper antut. Es ist quasi deine Freiheitsstrafe. Wie lange du in dieser „Haft“ sitzt? Ungewiss. Und doch fühlst du dich nur in deiner Zelle sicher und willst im Grunde genommen gar nicht ausbrechen, obwohl du etwas aufgibst, was jedem Menschen wichtig ist: Deine Freiheit. Dein Glück. Die Fähigkeit, ein normales Leben zu führen, denn das tust du mit dieser Krankheit nicht.  

Mein Freiheitsdrang jedoch kam zurück. Und ich wurde entlassen. Entlassen aus meiner Gefangenschaft. Neun Jahre habe ich bekommen, für das, was ich meinem Körper angetan habe und dann irgendwann durfte ich gehen und bekam meine Freiheit zurück. 

Comments

  • Marie-Sophie
    29. Mai 2020

    Wow ! Einer der tollsten Blogbeiträge, die ich je gelesen habe ! ♥️ Ich stecke gerade mitten in diesem Hamsterrad und hoffe nur, dass ich es bald durchbrechen kann!!

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Est. 2012

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