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Lisa Reiter

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Laxantien

Disclaimer: Ich bin keine Ärztin. Fachliche Informationen entstammen einer sorgfältigen Recherche. Ich gebe keine Gewähr für Richtigkeit. Solltest du Probleme mit Laxantien haben, wende dich bitte umgehend an einen Arzt oder eine Ärztin deines Vertrauens.

Achtung Triggerwarnung!!!

Es begann mit einem Dragee. Aus einem Dragee wurden zwei. Dann fünf. Dann zehn. Und irgendwann saß ich vor einer leeren Packung Laxantien, die ich mir erst eine Stunde davor gekauft hatte. Es ist der sensibelste Teil meiner gesamten Krankheitsgeschichte. Zumindest der sensibelste, den ich teilen möchte. Es ist auch der Teil meiner Geschichte, für den ich mich schäme. Mein Kryptonit. Die Sache, über die ich lange Zeit schwieg. Aus Scham. Weil es mir peinlich ist. Vielleicht auch, weil Darmgesundheit (und es hängt im weitesten Sinne damit zusammen) in unserer Gesellschaft noch immer tabuisiert wird. Doch nach all den Zuspruch, den ich nach meiner Instagram Story bekommen habe. Nach all euren ehrlichen Worten – es waren etliche dabei, die eine selbe Geschichte teilen – habe ich mich dazu entschieden, meine Erfahrungen mit Laxantien schriftlich festzuhalten. 

Als ich das erste Dragee nahm, hätte ich nicht gedacht, dass mich diese Ersterfahrung prägen wird. Dass sie mich in ein tiefes Loch katapultieren wird. Ich wusste nicht, dass sich irgendwann mein ganzes Leben darum drehen wird. Dass ich mein ganzes Leben danach ausrichten werde. Als ich das erste Dragee nahm, hatte ich keine Ahnung, dass mein ganzes Sozialleben, mein Studium und meine Arbeit einer strengen Planung unterzogen wird. Ich wusste nicht, dass mir schmerzhafte Stunden im Badezimmer bevorstehen. Krümmend und mit Bauchkrämpfen, liegend auf dem kalten Badezimmerboden. Weinend. Mir selbst schwörend, es nie wieder zu tun, um es später wieder zu vergessen und es doch wieder zu tun.

Abführmittel machen nicht abhängig. Trotzdem haben sie mich in eine schier absurde Abhängigkeit gestürzt. Ich glaube, ich war nicht abhängig nach Laxantien, sondern nach dem Sicherheitsgefühl, das sie mir im Schein gaben. Dass es ein Trugschluss ist, hatte ich irgendwie stets im Hinterkopf. Dennoch ließ ich mich immer wieder dazu verleiten, Laxantien zu nehmen. 

Laxantien

Eine vermeintlich positive Lernerfahrung

Meine erstes Dragee nahm ich noch zu Schulzeiten. Nach monatelangen Hungern hatte ich eine Essattacke. Ich fühlte mich so hilflos. Ich fühlte Scham. Ekelte mich vor mir selbst. Nie hätte ich gedacht, dass ich das eines Tages tun würde. Nachgegrübelt hatte ich darüber aber schon länger. So habe ich es nach dieser Essattacke getan. Ziemlich unüberlegt. Ziemlich verzweifelt. Einfach so. Der Gang in die Apotheke war keine Überwindung. Keinen einzigen Gedanken verschwendete ich daran, wie mein gegenüber reagieren würde, wenn ich nach Laxantien verlangte. Doch dann war er da: dieser Blick. Dieser prüfende Blick, gemischt mit, was war es? Schock? Vielleicht. Und ich spürte sofort: das ist nicht normal, was ich tue. Aber was war damals schon normal, als ich meinen Körper schlecht behandelte? Als ich hungerte. Ich versuchte den Blick auszublenden. Ohne ein Wort zu sagen, holte die Apothekerin die Packung aus dem Regal. Sie reichte mir die Laxantien über die Ladentheke. Wortlos. Eine Frau, die mich zuvor noch mit einem freundlichen „Hallo“ strahlend begrüßte, starrte mit ernster Miene auf den Kassenmonitor und sagte mit monotoner Stimme den Preis. Fünf Euro und ein paar zerquetschte für die kleine Packung. Wortlos reichte ich ihr das Geld, erleichtert, endlich das Medikament zu haben, von dem ich mir so viel versprach. Ein Medikament, von dem ich glaubte, es würde mir helfen, dünner zu werden.

 

Doch es war das Medikament, das meine Gesundheit massiv beeinträchtigen sollte.

 

Zuhause angekommen schluckte ich die normale Dosis. Eigentlich hätte ich nach der ersten Erfahrung merken müssen, dass mir das nicht gut tut. Dass es nicht gut für meinen Körper ist. Bereits die normale Dosierung war schmerzhaft. Ich hatte Bauchkrämpfe. Schonend abführen? Von wegen! Ein billiges Werbeversprechen, das nicht gehalten wurde. Das Mittel war aggressiv. Auch in der empfohlenen Dosierung.

Nachdem die Wirkung einsetzte, war ich den kompletten Tag an mein Zuhause gefesselt. Aber ich machte weiter. Warum? Weil ich eine positive Lernerfahrung hatte. Mein Gewicht hatte sich dadurch wirklich etwas reduziert. Ich bildete mir ein, es würde mir helfen, schneller abzunehmen. Doch zu dem Zeitpunkt lag mein Gewicht bereits weit unter dem Normalbereich. Eigentlich war ich nicht nur mental, sondern auch physisch anorektisch. Eigentlich hätte ich zunehmen müssen. Darum verstehe ich heute den Blick und die Reaktion der Apothekerin. 

Nichtsdestotrotz wollte ich weniger wiegen. Viel weniger. Das tat ich nach dem ersten Mal. Ohne darüber nachzudenken, dass ich eigentlich nur Wasser verlor. Aber ich wollte weniger wiegen. So wenig wie möglich. Dafür war ich bereit, die Schmerzen in Kauf zu nehmen. Es sei aushaltbar. Das redete ich mir immer wieder ein. Immer wieder. Und beim ersten „Versuch“ tat es zwar weh, aber es war aushaltbar. Dass die Schmerzen irgendwann nicht mehr aushaltbar sein würden, konnte ich nicht ahnen. 

Wie mir der Verkauf von Laxantien verwehrt wurde

Fortan nahm ich immer wieder Abführmittel. Doch es lagen lange Abstände dazwischen. Die Einnahme erfolgte ausschließlich nach Essattacken. Weil ich genau dann eine Stützte brauchte. Anstatt mir emotionalen Beistand zu suchen, mich jemanden anzuvertrauen, fand ich diese Stütze in Laxantien. Meine Essattacken traten niedrig frequentiert auf. Trotzdem gewöhnte sich mein Körper extrem schnell daran. Kurze Zeit später griff ich zu einer höheren Dosierung. Die Schmerzen wurden schlimmer, aber mein Wille war eiserner denn je. Genauso schnell ging dann auch die erste Packung leer. Meine Mutter hatte inzwischen Wind davon bekommen. Sie redete auf mich ein, konnte aber nichts dagegen machen. Ich war volljährig. Sämtliche Kriterien, mich zwangseinweisen zu lassen, konnte ich nicht erfüllen. Eigentlich traurig, wenn man bedenkt, dass ich zu dem Zeitpunkt die Krankheitsstufe „severe“ – also schwere Magersucht erreicht hatte. 

Als die Packung leer war und ich wieder eine Essattacke hatte, entschied ich mich, mir eine neue Packung zu besorgen – diesmal die große. Wie einfach das ist, wusste ich bereits nach dem ersten Mal. Dennoch war meine Hemmschwelle nun viel höher. Ich erinnerte mich an den Blick der jungen Apothekerin. Mein Drang siegte dennoch. Mein Verlangen. Was ich nicht wusste: meine Mutter hatte vorgesorgt. Sie hatte in den beiden Apotheken unserer Stadt angerufen, ihnen von meiner Essstörung erzählt und gebeten, mir keine Laxantien zu verkaufen. In beiden Apotheken wurde mir die Herausgabe der Laxantien verweigert. Schlimmer noch: ich musste mich sogar belehren lassen. Es war ein unangenehmes Gefühl, hielt mich aber nicht von der Laxantieneinnahme ab. Ich fuhr einfach in die nächste Stadt und besorgte sie mir dort. Das war kein Problem. Ich war bereit, alles in Kauf zu nehmen. Es sollte der Beginn von vielen Besuchen in unterschiedlichen Apotheken sein. Fortan kaufte ich mir überall Laxantien, sogar am Flughafen in Antalya nach der Maturareise. Doch eines blieb gleich: die Blicke. Die Stille. Das Anschweigen. Die monotonen Stimmen. Diese Erfahrung hat mich so geprägt, sodass es mir heute noch unangenehm ist, in Apotheken zu gehen. Selbst wenn ich nur Aspirin kaufe. 

Laxantien

Aggressive Schmerzen und gesundheitliche Beeinträchtigungen

Nur kurz habe ich mich an die Regeln gehalten. Nur für kurze Zeit nahm ich ein Dragee, die angegebene normale Dosierung. Im Beipackzettel stand auch dabei, dass sich dieses Medikament nicht zum abnehmen eigne und man sich doch bitte ärztliche Hilfe suchen sollte, wenn man unter einer Essstörung leide. Aber wer tut das? Es ist einer dieser Sätze, die in ein Ohr hineingehen und aus dem anderen heraus. Ich hätte es nie gewagt, mir diese Essstörung einzugestehen. Anfangs hielt ich es aus. Die Schmerzen, die nach jeder Dosiserhöhung noch schlimmer wurden. Oft hatte ich das Gefühl, dass ich innerlich austrocknen würde. Nicht nur, dass ich Laxantien nahm. Ich nahm am Tag, an dem ich diese „Kur“ machte (so nannte ich es immer), extrem wenig Wasser zu mir, aß gar nichts, um einen höchstmöglichen Gewichtsverlust zu erzielen. Darum nannte ich es nur nicht „Kur“, sondern bezeichnete es auch als „Ausschwemmen“. Es dauerte nich lange bis sich mein ganzes Leben danach richtete. Ich plante, wann ich wieder „ausschwemmen“ konnte. Ich plante mein Leben so, wie es mit dieser „Kur“ vereinbar war. Ich verlagerte meine Prioriäten. Irgendwann nahm ich regelmäßig Laxantien. Ein bis zweimal pro Woche. Essattacke hin oder her. Und die Dosierung stieg. Ich hatte ständig das Gefühl, ich müsse das tun. Manchmal passierte gar nichts. Kein Ausschwemmen. Mein Körper reagierte nur mit Bauchschmerzen. Sonst passierte nichts. Mein Darm war zu dem Zeitpunkt träge. Ich vertrug es nicht mehr, ständig mit Laxantien vollgepumpt zu sein. Darüber hinaus aß und trank ich so erschreckend wenig, sodass in meinem Magen nichts mehr war, was ich „ausschwemmen“ hätte können. Oft wurde ich einfach nur Wasser los.

Viele Nächte wälzte ich mich nach einer Einnahme im Bett. Die Schmerzen sind unbeschreiblich. Viele denken wahrscheinlich, dass es sich wie eine Magen-Darm-Grippe anfühlt. Das tut es nicht. Vielleicht klingt das für Außenstehende übertrieben, aber es fühlt sich so an, als würde sich die ganze Magensäure in die Magenschleimhaut ätzen. Man hat das Gefühl, als würde der Darm platzen. Es fühlt sich nicht an, wie eine Übelkeit oder Bauchschmerzen, die man kennt, wenn man etwas falsches gegessen hat. Es brennt. Höllisch. Man spürt die Kontraktionen des Darms. Wenn es besonders schlimm ist, sieht man es sogar. Kein Wunder, dass mich die Einnahme von Laxantien zusätzlich schwächte. Ich hatte wegen der Mangelernährung ohnehin kaum Kräfte, doch mit den Laxantien setzte ich noch eines drauf. Man sah mir meine Krankheit noch mehr an.

Laxantien

Das machen Laxantien wirklich mit deinem Körper

Die nicht zu unterschätzenden Nebenwirkungen

Du willst dünner werden und weniger wiegen. Darum tust du das. Deshalb schädigst du deinen Körper mit Laxantien. Aber Laxantien bringen dich nicht weiter. Sie machen dich weder dünner, noch helfen sie dir beim Abnehmen. Du wirst durch sie nicht weniger wiegen. Aber du bekommst dafür auch etwas: zahlreiche Nebenwirkungen und Folgeschäden. Dafür verprasst man doch gerne viel Kohle, oder? #sarcasmover.

Die ersten Folgen treten ein paar Stunden nach der Einnahme auf. Durchfall, Bauchkrämpfe und Koliken sind die harmloseren Begleiterscheinung. Dem Körper werden Wasser und Mineralstoffe entzogen. Viel bedenklicher sind jedoch die Langzeitfolgeschäden, die nach einem regelmäßigen Missbrauch auftreten können. Eine Folge wäre die Störung des Elektrolytenhaushaltes. Insbesondere führt der Missbrauch von Laxantien zu Kaliummangel. Kaliummangel ist mitunter ein Verursacher von Obstipation (Verstopfung), kann aber auch das Herz schwächen. Eine weitere schlimme Folge stellen die chronische Entzündung der Darmschleimhaut sowie ein Reizdarmsyndrom dar. Zu dieser Schädigung kann es vor allem nach einem langjährigen und regelmäßigen Gebrauch von Laxantien kommen. Auch ich merkte diese Folge. Ich leide öfters an Gastritis. Glücklicherweise wurde dieses Leiden nicht als chronisch diagnostiziert, sodass ich wirklich noch mit einem blauen Auge davon gekommen bin.

Besonders drastisch ist, dass durch den regelmäßigen Missbrauch von Laxantien die Darmstruktur irreversibel geschädigt wird. Die Darmkontraktionen werden schwach und die Verdauung funktioniert nicht mehr ausreichend.

Warum Laxantien nicht schlank machen

Der Mythos, dass Laxantien bei einer Diät unterstützend wirken, hält sich hartnäckig. Jedoch ist nichts Wahres dran. Zwar stimmt es, dass Laxantien die Verdauung beschleunigen, allerdings wirken sie erst im Dickdarm. Zu diesem Zeitpunkt hat der Körper bereits alle Nährstoffe aufgenommen. Alleine deswegen eignen sich Abführmittel nicht zur Gewichtsreduktion. Auch zur Entschlackung, Blutreinigung und Darmpflege sind Laxantien nicht geeignet.

Wie ich den Drang überwunden habe, Laxantien zu nehmen

Es dauerte lange, bis ich meinen Drang, Laxantien zu nehmen, überwinden konnte. Schließlich habe ich das Medikament über anderthalb Jahre regelmäßig genommen. Als ich in die Klinik kam, hörte ich kurzzeitig auf, aber auch im Krankenhaus habe ich wieder heimlich Laxantien gekauft und eingenommen. Diesmal konnte ich die Schmerzen jedoch viel mehr realisieren. Als ich vor meiner Klinikzeit Laxantien nahm, befand ich mich immer in meinen eigenen vier Wänden. In meiner vertrauten Umgebung – einer geschützten Zone. Die Schmerzen inmitten eines Krankenzimmers mit fünf weiteren Personen waren für mich weitaus schlimmer. Vielleicht spürte ich auch das Schamgefühl deutlicher oder mir wurde bewusst, dass die fünf Wochen, in denen ich keine Abführtabletten genommen hatte, eine durchaus angenehmere Zeit für mich waren.

Danach ließ ich wieder die Finger davon. Bis zu meinem letzten Rückfall. Erneut fing ich damit an. Die Frequenz war jedoch wesentlich geringer. Irgendwann wollte ich das nicht mehr. Ich wollte meiner Gesundheit keine Gefahr mehr aussetzen. Ich wollte nicht ständig meine Lebensgewohnheiten darauf ausrichten. Meine sozialen Kontakte waren mir viel wichtiger, genauso wie mein Studium und mein beruflicher Werdegang. Ich realisierte, wie sehr es mich in meinem Leben einschränkte. Dass ich mein Geld aus dem Fenster warf. Ich wollte keine schmerzhaften Nächte mehr auf dem kalten Badezimmerboden verbringen. Außerdem fiel es mir schon damals zunehmend schwer, die Tabletten zu schlucken, weil sie mit so viel negativen Erinnerungen verbunden sind. Heute wird mir durch den bloßen Gedanken, wie sich Laxantien im Mund anfühlen, wie sie sich beim Schlucken anfühlen, wie sie schmecken – speiübel. Ich kann auch keine Tic Tac mehr essen, weil mich das Mundgefühl zu sehr an die Dragees der Laxantien erinnert. Ich habe eine Konditionierung entwickelt, die Laxantien in einem negativen Licht erscheinen lassen.

Es war nicht schwer, die Laxantien abzusetzen. Wie ich schon am Anfang dieses Blogbeitrages geschrieben habe, machen Laxantien NICHT abhängig. Man erfährt dadurch keine Entzugserscheinung. Sicher ist man anfangs nervös, weil man irgendwie immer noch am Glauben festhält, Laxantien würden das Gewicht reduzieren. Aber heute bin ich schlauer. Ich weiß, dass es nicht so ist. Dass es die Lebensqualität einschränkt und es den Körper auf Dauer kaputt macht. Heute bin ich dankbar. Dankbar, dass mein Körper die Zeit überstanden hat. Zwar habe ich heute einen empfindlicheren Magen-Darm-Trakt und viele Ärzte gehen davon aus, dass mein Laxantienmissbrauch eine Rolle dabei spielt, aber meine Verdauung funktioniert weitgehend wie vorher – und glaubt mir, das hat gedauert. So gesehen blieben keine gravierenden Folgeschäden und das, obwohl ich einmal eine ganze Großpackung auf einmal genommen habe – in Summe 100 Stück. Noch heute wundert es mich, dass mich dieser Blödsinn nicht ins Krankenhaus befördert hat. Dass mein Körper dem Stand hielt.

Ich froh, dass ich diese Zeit hinter mir gelassen habe. Ich will nie wieder zurück.

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Est. 2012

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